Der Blog zur
Ausstellung im
Jüdischen Museum
Hohenems
www.jm-hohenems.at

Mi 12. September 2012

Gibt es im Judentum einen Brauch, bei dem die Frauen ihr Kopfhaar verlieren? Und nachher eine Perücke tragen?

Gudrun Blumenschein

  • Dieses Thema hat uns schon wiederholt beschäftigt:

    Die meisten jüdischen Frauen kümmern sich nicht um dieses Thema. Strenggläubige, orthodoxe Frauen, verdecken aber, wenn sie verheiratet sind, ihr Haar. Das tun sie, je nach Brauch und Tradition, auf verschiedene Weise. Das kann ein Kopftuch oder eine Mütze sein. Oder eben eine Perücke, unter der man sein Haar entweder kurz trägt oder ganz abrasiert.

    Die Bibel kennt dazu keine Vorschriften. Die Idee, dass die weibliche Haarpracht unkeusche Gedanken und Gefühle wecken könnte und Männer zur Übertretung des 10. Gebotes (Du sollst nicht begehren Deines nächsten Weib) verführen würde, wird erst im Talmud breiter diskutiert.
    In der Tora ist zum ersten mal davon in der Episode die Rede in der Rebekka (Rivka) ihren zukünftigen Ehemann Yitzchak trifft und vorher ihr Haar bedeckt (Tora Parashat Chaye Sarah), sowie an einer anderen Stelle, wo es darum geht, dass Ehefrauen, die verdächtigt werden, Ehebruch begangen zu haben und zum Beweis von Schuld oder Unschuld das “Sotahwasser” (Mei Sotah) vom Cohen (Tempelpriester) verabreicht bekommen, ihre Kopfbedeckung absetzen müssen (siehe Tora Parasha Nasso).
    Genauer wird die Kopfbedeckung der verheirateten Frau aber erst im Talmud Traktat Ketubot 72a beschrieben, sowie (sehr viel später) im Shulchan Aruch – Orach Chaim 75:2.

    Die verschiedenen Bräuche, die Haare zu verbergen, entstehen nach und nach und sind weder einheitlich noch verbindlich, auch wenn orthodoxe Rabbiner das manchmal gerne so darstellen.

    “Frag den Rabbi” antwortet darauf so:
    http://www.hagalil.com/judentum/rabbi/fh-0802-6.htm

    Und ein schönes statement einer jüdischen Frau zu diesem Thema findet sich auf “Annas Blog” im Internet:
    http://mittendrin.wordpress.com/2008/04/06/die-kopfbedeckung-bei-judischen-frauen/

    Hanno Loewy, Donnerstag, 13. September 2012

Mi 12. September 2012

Warum wurden Juden immer verfolgt?

anonym

  • Das ist eine schwierige Frage, die sich nicht in zwei Sätzen beantworten lässt.
    Hier eine Auswahl von Antworten, die wir im Blog schon versucht haben:

    Nicht zu aller Zeit und nicht an jedem Ort wurden Juden verfolgt, im Gegenteil: Es gab viele Phasen entspannten und gedeihlichen Zusammenlebens von Juden mit der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft. Unser Blick auf die Geschichte ist dabei durch die Massenvernichtung in der NS-Zeit beeinträchtigt, und wir neigen dazu, die jüdische Geschichte als eine Abfolge von Pogromen zu sehen.
    “Man” hat die Juden also nicht verfolgt, sondern es waren immer ganz bestimmte Täter mit ganz bestimmten Interessen, seien es böswillige Nachbarn oder auch Könige oder Grafen, die vielleicht eine Rechnung für gelieferte Waren nicht bezahlen wollten.
    Den theoretischen Hintergrund für die soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung der Juden lieferte das Christentum mit dem Vorwurf des Gottesmordes. Die Kreuzigung Jesu wurde dabei als Kollektivschuld den Juden umgehängt und immer auch den zeitgenössischen Juden zum Vorwurf gemacht. Die Substitutionstheologie lehrte zudem, dass die Juden ihre religiöse “Auserwähltheit” an die christliche Kirche verloren hätten, da sie Jesus nicht als Messias akzeptierten. Nun liege ein Fluch Gottes auf allen Juden. Das motivierte und erleichterte, sie zu diskrimieren und auszugrenzen, bei Gelegenheit zu berauben, zu vertreiben oder zu ermorden.
    Hannes Sulzenbacher, Donnerstag, 5. April 2012

    Blutige Verfolgung von Minderheiten war weder in der europäischen noch in der allgemeinen Geschichte eine Seltenheit.
    Juden waren als Minderheit innerhalb eines “christlichen Europas” freilich oft in einer besonders prekären Situation – die nicht nur von Verfolgung sondern auch von Vereinnahmung geprägt war und ist. Die christliche Bewegung ist ursprünglich aus dem Judentum heraus entstanden, und hat ihr Verhältnis zu ihrer Herkunft nie eindeutig klären können. Daran ist das Judentum tatsächlich auf gewisse Weise “schuld”, wenn auch nur dadurch, dass es weiter existieren möchte. Die ersten Christen verstanden sich im Grunde noch selbst als Juden, freilich als solche, die den Schritt zur aktiven messianischen Mission tun wollten. Die jüdische Tradition ist ihnen nicht gefolgt – und so begann der Weg einer christlichen Theologie, die die jüdische “Verstocktheit” (also ihr Beharren auf der Unerlöstheit der Welt) als “Schuld” interpretierte. Diese Vorstellung konnte viele Formen annehmen:
    Sie konnte darin münden, die Fortexistenz des Judentums zwar zu akzeptieren, sein Exil und Leiden aber als Zeugnis für das historische Recht des Christentums zu werten. Daraus wurde eine häufig verfolgte Politik christlicher Herrschaft, Juden zwar zu tolerieren, aber streng zu kontrollieren und zu beherrschen.
    Daraus konnte aber auch immer wieder das Recht abgeleitet werden, sie zu verfolgen und ihnen das Existenzrecht abzusprechen.
    Anders als viele andere Minderheiten, die in der Geschichte verfolgt wurden, gingen die Juden in der Mehrheitsbevölkerung nicht einfach auf, sondern behielten ihren prekären Status bei. Sie waren zugleich “nah” und “fern”, sie waren zugleich das “andere” des Christentums schlechthin, jenes “andere” auf das das eigene untrennbar bezogen blieb, denn schließlich basierte das Christentum auf der Wahrnehmung eines jüdischen Propheten als Messias. Zugleich war das Judentum durch seine geografische Zerstreuung (die ja schon lange vor dem Beginn der Zeitrechnung eine Tatsache war) fast überall präsent und das heißt auch, als Minderheit greifbar, wenn die Mehrheit einen Sündenbock brauchte. Und das war meisten dann er Fall, wenn die Widersprüche innerhalb der Mehrheit oder die Konflikte zwischen konkurrierenden Mächten über Territorien und Ressourcen, oder über die Loyalität von Bevölkerungen besonders dramatisch wurden. Dann wurden schlummernde Ressentiments gegen die jüdische Minderheit leicht aktiviert und die Juden als “Dritte” in vielen Konflikten zum Spielball antijüdischer aber auch “projüdischer” Ideologien.
    Das war so in den Konflikten zwischen der Kirche und ihren Abtrünnigen im Mittelalter, das war so im Konflikt zwischen Katholizismus und Protestantismus und in den großen sozialen Konflikten im Kapitalismus Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts und ist heute so in den Konflikten zwischen verschiedenen Gruppierungen im politischen Islamismus (und wenn man so will zwischen “westlicher” Politik und den politischen Bewegungen im Nahen Osten). In dieser Situation als Spielball von Interessen sind Juden durchaus zu einer erfolgreichen Minderheit geworden, was sie zu alldem noch zum Objekt von Neid und Konkurrenzdruck gemacht hat. Ökonomische Interessen an Handel und Entwicklung, die den Juden in verschiedenen Gesellschaften unter strenger Reglementierung immer wieder besondere Berufsfelder zuwiesen haben dafür gesorgt, dass auch ihr sozialer Status prekär und besonders sichtbar wurde. Als Angehörige von freien und Handelsberufen waren sie ökonomisch wertvoll und zugleich auf den besonderen Schutz der Herrschaft angewiesen – und konnten jederzeit als Sündenbock preisgegeben werden, wenn es zu Spannungen kam.
    Besonders drastisch erlebten Juden diese Wechselfälle von Vefolgung und Vereinnahmung schon im Spanien vor und während der Reconquista. Solange Teile Spaniens unter islamischer Herrschaft standen, hatten sie nicht nur im Territorium des islamischen Kalifats über lange Zeit hinweg einen gesicherten Rechtsstatus, sondern bis ins 14. Jahrhundert hinein auch in manchen christlichen Provinzen Spaniens eine halbwegs gesicherte Existenz. Und wurden von beiden Seiten zum Teil als Bündnispartner oder auch als positiver sozialer Faktor hofiert.
    Unter dem Eindruck der Radikalisierung der Konkurrenz um die iberische Halbinsel zwischen christlichen Königen und Muslimen, aber auch zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb der islamischen und der christlichen Gesellschaften kam es – vor allem im 14. Jahrhundert – zu den ersten blutigen Pogromen, Vertreibungen und unter christlicher Herrschaft zu Zwangskonversionen. Mit dem endgültigen Sieg der christlichen Herrschaft in Spanien blieb den Juden nur Flucht, Tod oder Konversion. Bald darauf aber setzte die neue spanische Inquisition den Konvertiten gewaltsam zu und bald standen auch die zum Christentum konvertierten Juden und Muslime unter Generalverdacht und durften schließlich keine öffentlichen oder geistlichen Ämter mehr ausüben. Schon damals wurde die Parole von der “Reinheit des Blutes” zum Gesetz. Zur gleichen Zeit entstanden neue, blühende jüdische Gemeinden, nicht zuletzt im Osmanischen Reich.
    Und das Wechselbad von Jahrhunderten von halbwegs friedlichem, wenn auch diskriminierend organisiertem Zusammenleben und kurzfristigen Wellen von Verfolgung ging anderswo weiter…
    Hanno Loewy, 7. April 2012

    Die Diskussion darüber füllt ganze Bibliotheken – eine einfache Antwort darauf können auch wir nicht geben. Und einzelne Buchtitel zu nennen ist bei diesem durchaus kontroversen Thema schwierig. Am Besten nehmen Sie Saul Friedländers Gesamtdarstellung zur Hand: “Das Dritte Reich und die Juden”. Darin findet sich die wohl vielschichtigste Beschreibung, die es dazu gibt.

    Im Grunde ist Ihre Frage bei uns an der “falschen” Adresse. Denn schließlich ist es eine Frage an die Täter und an die deutsche und österreichische Gesellschaft, oder an Institutionen die sich mit der Geschichte Deutschlands und Österreichs und Vorarlbergs beschäftigen. Trotzdem wird sie immer wieder in Jüdischen Museen gestellt. Und häufig wird sie Juden gestellt. In anderen Fällen hält man Opfer eigentlich nicht für die geborenen Experten für die Motive der Täter. Es ist ein wenig so, wie wenn man Frauen fragt, warum sie vergewaltigt wurden. Dahinter steckt manchmal, leider gar nicht selten, nämlich auch die Frage: “Was hast Du dazu beigetragen?” Da wird einem unwohl und deswegen haben viele Mitarbeiter jüdischer Museen bei solchen Fragen einen ersten Impuls des Widerstands.
    Und doch gibt es auch andere Gründe, warum diese Frage gestellt wird. Einer dieser Gründe ist tatsächlich, dass es doch auch und gerade die Opfer waren, die nach 1945 überhaupt die Spuren der Verbrechen systematisch sicherten. Und dass sich tatsächlich viele Juden fragten, warum Ihnen das geschah. Und schließlich: Jüdische Museen sind keine “jüdischen Institutionen” sondern Orte der Auseinandersetzung mit Fragen jüdischer Geschichte. Und jüdische Geschichte lässt sich von solchen Fragen kaum trennen.

    Judenfeindlichkeit hat es im christlichen Europa immer gegeben, mal virulent und mal offen. Das hat mit den Ursprüngen des Christentums zu tun. (Siehe dazu unsere Antwort auf die Frage “Warum verfolgte man die Juden?” am 4. April)
    Seit dem 19. Jahrhundert haben sich solche traditionellen judenfeindlichen Ressentiments mit dem modernen Nationalismus verbunden und mit dem aufkommenden Rassismus. So entstanden politische Bewegungen, die sich explizit als “antisemitisch” verstanden und die angebliche “Judenfrage” als nationale und als Rassenfrage “lösen” wollten. Solche Bewegungen waren besonders in Österreich (die christlichsoziale Partei) und in Deutschland stark, aber um 1900 zeitweise auch in Frankreich besonders ausgeprägt (dort verbunden mit der verbreiteten Phantasie, die Juden wären “feindlliche Agenten” der Deutschen…). Im Grunde gab es sie in ganz Europa und auch darüberhinaus.
    Nach dem ersten Weltkrieg stießen antisemitische Strömungen dann vor allem in Österreich und Deutschland auf einen fruchtbaren Boden, schließlich suchte man für die Erfahrung des verlorenen Krieges einen Sündenbock.
    Hinzu kamen viele unterschiedliche Motive, traditionelle religiöse und soziale: auch für die Spaltung der Gesellschaft, die durch die wachsenden sozialen Gegensätze im Zeichen kapitalistischer Wirtschaft gekennzeichnet war, suchte man einen äußeren Feind verantwortlich zu machen. Und besonders überzeugend wirkten in der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Krise um 1930 schließlich jene Vorstellungen, die einen äußeren Feind im Innern identifizieren konnten: also eine soziale Gruppe, die zugleich innen und außen war. Juden waren dies in besonderer Weise, als in bestimmten Berufen erfolgreiche Minderheit exponiert, und durch lange kultivierte jederzeit wachzurufende Ressentiments der Mehrheit besonders leicht auszugrenzen. Gegen sie war schon immer Neid zu mobilisieren, sie waren immer wieder das Ventil für sich aufstauende soziale Konflikte.
    Im Nationalsozialismus, der sich anschickte, die Weltherrschaft zu erlangen und der die Deutschen (und Österreicher) als zur Herrschaft “auserwähltes Volk” ansah, nahm das Projekt, Deutschland, dann Europa, dann die Welt “judenfrei” zu machen, schließlich einen zentralen Stellenwert ein. Ihre Beseitigung (ein schönes Wort für etwas, das schließlich nur als Mord realisierbar war) wurde schließlich als Schlüssel zur Lösung aller Probleme angesehen. Juden gab es schließlich überall, das heißt, sie “treffen” zu wollen gab die perfekte Legitimation für den eigenen Größenwahn, den Krieg gegen die ganze Welt. Und zugleich konnte man damit auch die besetzten Länder und ihre Bevölkerungen mit vor den eigenen Karren spannen. Denn Antisemitismus gab es dort auch.
    Schließlich hatte das Ganze auch noch eine “praktische” Seite: man konnte sich bereichern, Konkurrenten loswerden, Karrieren machen. Das war zwar nicht die Erklärung für die Verfolgung, aber es brachte zusätzlichen, persönlich motivierten Antrieb ins Geschehen, machte es leichter, mitzumachen, korrumpierte, band ein, gab dem ganzen den Ganzen (aus der Perspektive der Individuen) den Charakter “rationaler” Handlungen.

    Hanno Loewy, 11. April 2012

    Hanno Loewy, Donnerstag, 4. Oktober 2012