Sa 31. März 2012
Wie ist das Jiddische entstanden und warum? Ist Jiddisch eine VO- oder eine OV-Sprache?
Scandanella
Sa 31. März 2012
Scandanella
Sa 31. März 2012
Rahel Jakobson
Liebe Frau Jakobson,
Yael Bartana hat mit der Filmtrilogie “And Europe will be stunned…” den polnischen Pavillon der Biennale von Venedig 2011 bespielt, also mussten sich diese Frage die Angehörigen aller Nationalitäten stellen, die sich Bartanas vieldeutige Installation angesehen haben. In der Trilogie werde reihenweise nationale Mythen und Gründungsgeschichten mit großem Ernst erzählt oder auch durchgeführt bzw. nachgestellt. An manchen Stellen (wie zum Beispiel den Schwenks über die leeren, Gras überwachsenen Ränge des Stadions, in dem die Kundgebung statt findet) blitzt aber die letztlich hilflose Inszenierung der Kundgebung durch. Sie ironisiert, mit welch heroischer Geste uns jene Mythen großer politischer Bewegungen erzählt werden. Eine große Qualität der Arbeit besteht meines Erachtens in dieser poetischen Kombination von scheinbar ernsthaftem Anspruch, heillos anachronistischer Darbietung und der feinen Ironie, die immer wieder bewusst macht, dass es mit dem “Jewish Renaissance Movement” als Massenbewegung wohl nichts werden wird.
Hannes Sulzenbacher, Montag, 2. April 2012
Sa 31. März 2012
Don Pieuer
Ihre Frage ist leider unverständlich: “Jiddische” im Sinne von “jiddische Menschen” gibt’s keine. Es ist lediglich eine Sprache, die weltweit von kaum mehr als einer Million Menschen gesprochen wird, und zwar hauptsächlich von wenigen aus Osteuropa stammenden, sehr alten Leuten sowie von manchen ultraorthodoxen Juden. In Österreich und Deutschland besuchen zudem viele Menschen Jiddisch-Kurse. Ob jene erwähnten Gruppen über gemeinsame charakterliche Eigenheiten verfügen, entzieht sich aber meiner Kenntnis.
Hannes Sulzenbacher, Montag, 2. April 2012
Fr 30. März 2012
Phoebe
Nach halachischem Gesetz ist sie/er natürlich Jüdin/Jude. Fragt sich nur, ob ihr/ihm diese Regeln etwas bedeuten. Daran würde ich mich halten.
Hannes Sulzenbacher, Freitag, 30. März 2012
Do 29. März 2012
Kara ben Nemsi
Ja, Ihre Schlussfolgerung ist richtig. Und tatsächlich hat dieser Umstand den jüdischen Gemeinden an Nord- bzw. Südpol seit Jahrhunderten Schwierigkeiten und Kopfzerbrechen bereitet. Für die Einhaltung zahlreicher Schabbat-Gebote mussten kreative Lösungen gefunden werden, so bereiten die jüdischen Mütter dort enorme Mengen eines ganz besonderen Tscholent vor, der fast bis Schabbatende genießbar und in vielen Fällen gesundheitlich völlig unbedenklich bleibt. Ein großes Problem für die dort lebenden Juden stellt die Langeweile dar, die sich im Lauf der Zeit unvermeidlich einstellt. Jedoch, so wird berichtet, ist das noch gar nichts im Vergleich zu dem halben Jahr Arbeit ohne freien Tag, eine Zeit in der burn-outs, Familientragödien und Entkräftungserscheinungen zum Alltag gehören. Wenn Sie mir nicht glauben: Ask your Rabbi.
Hannes Sulzenbacher, Freitag, 30. März 2012
Mi 28. März 2012
Kurt
Lieber Kurt,
die Frage nach den “typisch jüdischen” Namen bezieht sich meistens auf solche Namen, die dann auch dem Fragenden erlauben, den Namensträger als Juden zu identifizieren, also auf “Goldstern” und nicht auf das nicht weniger häufig vorkommende “Meyer” (in all seinen Schreibweisen). Dass man mit solchen Klischees aber schlecht fährt, zeigt sich unter anderem und nicht zuletzt am nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg bzw. an der niederösterreichischen (um es mal vorsichtig auszudrücken:) “FPÖ-Familie” Rosenkranz.
Es gibt dazu außerdem einen ausführlichen wikipedia-Eintrag:
http://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdischer_Familienname.
Hannes Sulzenbacher, Donnerstag, 29. März 2012
Lieber Kurt,
auch von mir noch ein Lesetipp zum Thema:
Dietz Bering, Der Name als Stigma
Hanno Loewy, Samstag, 7. April 2012
Mi 28. März 2012
Fragesteller unbekannt
Puh, das sind viele Fragen auf einmal, die sämtlich eher in die Kategorie “Was ich schon immer über Antisemiten wissen wollte” fallen, also vermutlich doch eher an einen Antisemitismusforscher gerichtet werden sollten. Aber einige Antwortversuche seien dennoch auch von unserer Seite gewagt.
ad 1) Das Antisemitismus etwas mit rauschhaften Gefühlen und Gemeinschaftbildung auf Kosten eines ausgeschlossenen “Anderen” beruht, vor allem aber auf zum Teil wahnhaften Fantasien, die man über diesen anderen entwickelt, ist seit langem unstrittig. Dass nun auch die Molekular- und Neurobiologie zu diesem Schluss kommt, ist nicht überraschend, aber fügt dem Bild nicht sehr viel neues dazu.
ad 2) Einige Firmen versuchen heute mittels DNA-Analyse die interessanten Herkünfte zu beweisen. So kann man sich von der Forma Igenea in der Schweiz attestieren lassen wahlweise von Phöniziern, Wikingern, Juden, Schotten oder “Kriegern” abzustammen. Das Problem ist: die meisten Menschen auf diesem Erdball stammen von allen möglichen Gruppen ab. Man wird kaum jemand finden, der nicht von Wikingern, Phöniziern und Juden abstammen wird, wenn man nur lange genug zurück geht. Marina Belobrovaja, die am 14. Juni ihr persönliches “DNA-Projekt” vorstellen wird, hat es mit einer anderen “DNA” probiert, der unendlichen Kette von Erzählungen über jüdische Identität, die unserer menschlichen Kultur eher entspricht. Wir reden über unsere Fantasien, wir erfinden uns immer wieder neu, und wir streiten uns darüber, wer wir sind. Ihre eigene “DNA-Analyse” ergab laut Igenea, dass sie “Jüdin oder Slawin” sei, eine Erkenntnis, die Marina Belobrovaja wohl eher erheitert als klüger gemacht hat.
ad 3) Vor zwei gab es Gerüchte, dass “russische Geheimdienste” irgendwelche Schädel- und Knochenreste dieses Herrn aufgehoben hätten, was sich schnell wieder als Gerücht herausstellte. Hitlers Überreste sind nach Moskau überführt und vermutlich 1970 eingeäschert worden, um keine Wallfahrtstätte für Neonazis zu hinterlassen.
Auf eine DNA-Analyse und die Beantwortung der Frage, ob Hitler das “Krieger-Gen” (Igenea) oder wie die meisten Mitteleuropäer auch irgendeinen jüdischen Vorfahren besaß werden wir verzichten müssen.
ad 4) Jedem steht frei, wissenschaftlich aus diesem Buch zu zitieren. Und unzählige Menschen besitzen es. Im deutschsprachigen Raum ist die Publikation des Buches nicht erlaubt, fremdsprachige Ausgaben existieren in Hülle und Fülle.
Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Mein_Kampf
ad 5) Die Nationalsozialisten haben sich große Mühe gegeben, Juden anhand von körperlichen Merkmalen zu identifizieren und die “Rasseforschung” wurde im Nationalsozialismus zur Leitwissenschaft. Unzählige Menschen wurden vermessen und fotografiert, und manchmal dafür auch extra umgebracht, um ihre Schädel “erforschen” zu können. Wie man sich denken kann hatte diese Praxis mit wissenschaftlichen Standards nichts zu tun. Im wesentlichen haben die Nazis herausgefunden, dass Juden in der Regel eine Nase, einen Mund und zwei Augen haben. Für die Entscheidung über Leben und Tod hielt man sich an traditionelle Methoden, Standesamtsbücher, Religionszugehörigkeit und Herkunft. Wie sie mit Konvertiten umgehen sollten, stellte die Nazis vor ein Problem. Und wie so oft handelten sie keineswegs so einheitlich, wie sie immer gerne taten. Zum Judentum konvertierte Christen wurden zumeist dann als Juden behandelt, wenn sie das “Angebot” ausschlugen, aus dem Judentum wieder “auszutreten” und ihre jüdischen Ehepartner und Familien im Stich zu lassen.
In der Regel aber galt das Prinzip der Herkunft. Und ob die Vorfahren Konvertiten waren oder nicht, wurde nicht überprüft.
ad 6) Natürlich haben Juden immer wieder versucht, sich gegen antisemitische Diskriminierung auch mit juristischen Mitteln zu wehren. Auch gegen die Arisierung des Alpenvereins. Mit wechselndem und in Summe eher entmutigendem Erfolg.
Siehe unter anderem:
Avraham Barkai: „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938. Beck, München 2002; oder das Buch von Inbal Steinitz: Der Kampf jüdischer Anwälte gegen den Antisemitismus. Die strafrechtliche Rechtsschutzarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. (1893–1933). Metropol-Verlag, Berlin 2008.
ad 7) Eduard Pichl wurde nicht belangt. Die nach ihm 1923 benannte Alpenvereinshütte in den karnischen Alpen wurde erst 2002 (nach erbitterten Diskssionen) wieder in Wolayerseehütte zurückbenannt.
ad 8 So wird es in der Literatur immer wieder behauptet.
ad 9) Hitlers “freundliche” Äußerung steht in keinem Gegensatz zu seinen späteren. Nicht zuletzt Antisemiten sind der Meinung, dass “die Juden” besonders “klug” seien und “besser zusammenhalten” würden als andere. Hat man ihnen diese Eigenschaften erst einmal zugeschrieben, kann man auf sie auch gehörig neidisch sein. Und das weitere ergibt sich dann.
Hanno Loewy, Mittwoch, 28. März 2012
Di 27. März 2012
Anne & Joachim
Die erste Frage lässt sich leicht beantworten:
Nehmen wir nur ein Beispiel. Bibi Netanjahu ist sicher einer der unwitzigsten Menschen auf diesem Erdball. Er ist nicht einmal unfreiwillig witzig. Wenn ich ein wenig nachdenke, fallen mir vermutlich noch ziemlich viele andere ein, über die ich niemals lachen könnte.
Die zweite Frage ist sehr viel schwieriger zu beantworten, denn sie enthält selbst schon zwei Fragen.
a.) Gibt es “jüdischen Witz”?
b.) Kann man Juden daran erkennen?
zu a.)
Über den “jüdischen Witz” haben sich schon Legionen von Humortheoretikern ausgelassen, und viele mögliche Motive beschrieben, aus denen sich “jüdischer Witz” bedienen mag und die sich tatsächlich von dem unterscheiden lassen, was man beispielsweise als Motive des sprichwörtlichen britischen Humors identifizieren mag.
1.
– als Minderheit an einem Ort kann man sich entweder auf die Mythen der “eigenen” Heimat und der “eigenen” Nation berufen – so man diese besitzt – und das ist meistens nicht sehr lustig. Oder man hat so was nicht und dann hat man ein Problem.
– Die Juden waren überall in der Minderheit und wurden zugleich von allen ausgesprochen aufmerksam beäugt, denn symbolisch gehörten die Juden schließlich zum “Traditionsbestand” der jeweils anderen. Die ihre eigene Identität mit enteigneten Bilden des “Jüdischen” begründeten (besonders beliebt: die Darstellung eines leidenden Juden, auch “Christus” genannt, die sich einer weltweit unübertroffenen Popularität und massenhaften Verbreitung erfreut).
– Wie also sich selbst wahrnehmen in einer Welt, in der Massen von anderen einen permanent anschauen??
– Es ist nicht ganz leicht, dabei nicht irgendwann Ironie als Selbstschutz zu entwickeln, und zwar eine Ironie, die darin besteht, sich selbst schneller in Frage zu stellen, als es die anderen eh tun.
2.
– Eine schier unendliche Quelle des Humors sind auf der anderen Seite die Zumutungen des eigenen Glaubens, eigentlich nicht des Glaubens, sondern der göttlichen Gebote. 613 von ihnen soll man einhalten, niemand kann sich alle merken, die Strafen sind drakonisch, auch wenn sie nie vollzogen werden. Gott ist fordernd, strafend, vor allem aber: unberechenbar (sonst wäre es ja kein Gott sondern eine Wahrscheinlichkeitsrechnung). Auch angesichts solcher Zumutungen erscheint Ironie einigermaßen unausweichlich, wenn man nicht in Depressionen verfallen will.
– Woody Allen hat es augenscheinlich vorgezogen, es abwechselnd mit beidem zu versuchen.
b.)
Nein.
Hanno Loewy, Dienstag, 27. März 2012
So 25. März 2012
Ein Freund des Hauses (zigedrikkt)
Mensch Bubbele,
welche Diaspora? Die Hohenemser Diaspora blüht und lebt in weltbürgerlicher Vielfalt zwischen San Franzisko, St. Gallen und Melbourne. Die verschiedenen jüdischen Diapora-Identitäten sind fast so zahlreich, wie die anderer in der Welt zerstreuter Minderheiten. Wahrscheinlich ist die jüdische Diaspora freilich die älteste und jene mit den meisten unterschiedlichen Zentren über so viele Epochen hinweg. Was sie zusammenhält ist eine alte, vielfach neuerfundene Tradition von Erzählungen und Gesetzen, die von Beginn an etwas mit Migration zu tun haben, damit, sich immer wieder an einem neuen Ort eine neue Heimat zu schaffen, und diese auch noch mit sich zu tragen. Das wäre, zigedrikkt, einmal die Kurzfassung. Für die Langfassung siehe z.B. (ein Buchtipp zum Thema)
Diaspora. Erkundungen eines Lebensmodells, herausgegeben von Isolde Charim und Gertraud Auer Borea, Bielefeld, transcript, 2011.
(Mit Beiträgen unter anderem von Benedict Anderson, Saskia Sassen, Homi Babha, Zygmunt Bauman, Biran Bingül, Ilija Trojanow, Vivian Liska, Tony Judt, Sari Nusseibeh, Diedrich Diedrichsen, Timothy Snyder und Hanno Loewy)
Hanno Loewy, Montag, 26. März 2012
So 25. März 2012
M Soskocil (Name nicht gut lesbar)
Hebräisch für “Katastrophe”, seit 1948 verwendet für den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden. 1959 wurde in Israel ein nationaler Trauertag mit diesem Namen eingeführt (Jom HaSho’a). Mit Claude Lanzmanns Film “Shoa” wurde das Wort auch im deutschen Sprachraum bekannt, häufig als Alternative zu “Holocaust” verwendet (um sich von einem Wort abzusetzen, dass einerseits für amerikanische Populärkultur stand, andererseits wörtlich mit “Brandopfer” zu übersetzen war, und auch aus diesem Grund Unbehagen auslöste). Als hebräisches Wort hat sich “shoa” allerdings im Sprachgebrauch nicht durchsetzen können.
Hanno Loewy, Montag, 26. März 2012
Die jiddische Grammatik ist deutschbasiert, somit ist Jiddisch eine VO-Sprache, in der das Verb also vor dem Objekt steht. Entstanden ist die Sprache vor 1000 Jahren, als sich die deutschsprachigen Opfer der christlichen Judenverfolgungen in Osteuropa niederließen. Für die Sprecher selbst blieb die Sprache auch immer “daitsch”. Neben aramäischen, hebräischen und slawischen Beimischungen lassen sich vor allem die mittelhochdeutschen Sprachwurzeln des Jiddischen gut heraushören.
Hannes Sulzenbacher, Montag, 2. April 2012
Es gibt zwar Linguisten, die das Jiddische eher als VO Sprache ansehen, also als eine Sprache, in der das Verb dem Objekt vorangeht. Aber das ist eher eine Minderheitsposition. Die Expertenmeinungen widersprechen sich da leider.
Kurz zum Verständnis des Kontexts: einige germanische Sprachen haben im Verlauf der Geschichte die Satzstellung Objekt-Verb herausgebildet (so Deutsch und Niederländisch). Andere wiederum die Satzstellung Verb-Objekt (Englisch und Dänisch zum Beispiel).
In der Sprachwissenschaft wird dem Jiddischen zumeist eher eine Zwischenposition zugewiesen, die Merkmale beider Satzstellungen in ganz eigener Weise vereint.
Siehe dazu (für Spezialisten) den informativen Aufsatz von Oliver Schallert: “Wortstellungstypologie des Jiddischen im Spannungsfeld zwischen den germanischen und den slawischen Sprachen”, nachzulesen unter:
http://www.uetzgenfatz.priv.at/…/Jiddisch-Artikel%20Endversion.pdf
Hanno Loewy, Samstag, 7. April 2012